Zurück nach Wüstewaltersdorf

Die für uns Kinder, meine Schwester Edith und mich, recht unbeschwerte Zeit in Eisendorf ging 1944 zu Ende. Der Bürgermeister von Wüstewaltersdorf drohte damit, unsere Wohnung mit Flüchtlingen zu belegen, wenn wir nicht zurückkämen. Großvatel und Großmuttel, aber auch uns, standen schlimme Zeiten bevor! So ging es mit der Bahn von Lohnig über Striegau nach Schweidnitz dann mit der Weistritztalbahn bis Hausdorf und mit der Kleinbahn bis Wüstewaltersdorf ins heimatliche Eulengebirge. Auf dem Winterbild: Die Weistritztalbahn.

Zum Glück sind die Großeltern "auf dem letzten Drücker" noch den Russen entkommen. Leider ließ das verlassene landwirtschaftliche Anwesen, insbesonder die zurückgelassenen Tiere, meinem Großvater keine Ruhe und er kehrte noch vor Kriegsende nach Eisendorf zurück, was im beinahe das Leben gekostet hätte. Auch die Großmutter versuchte den einrückenden Russen in Spitzkunnersdorf ins Sudetenland zu entkommen und ist bei den tschechischen Partisanen vom Regen in die Traufe gelangt. Alles nachzulesen unter Berta und Bernhard Neumann auf der Seite http://home.arcor.de/eulengebirge/
Man sollte auch nie vergessen, daß nur die ostdeutsche Bevölkerung flüchteten mußte, der der Einmarsch der Russen drohte, weil sich die schlimmer als die schlimmste Propaganda schilderte, aufführten.

lenchen.84altErwähnen möchte ich noch das Schicksal andere Verwandter, am Beispiel meiner Großtante Helene Przibille, geborene Schmidt, die Schwester meiner Großmutter, Berta Neumann. Tante Lenchen war am 6. September 1888, im "Dreikaiserjahr" geboren, was sie gern erwähnte, dazu, daß an ihrem Geburtstag die Pflaumen reif sind. Ihr Mann, Paul Przibille, war eigentlich Oderschiffer. Er hatte aber im ersten Weltkrieg ein Bein verloren und deshalb bei der Stadt Breslau eine Stellung bekommen. Übrigens bekam er für das verlorene Bein zu seiner Rente eine "Verstümmlungszulage" (die Sprache war damals direkt) von 27 Reichsmark pro Monat. Von der Kaiserlichen Armee war ihm das EK II verliehen worden.Tante Lenchen verdiente hinzu, durch Flicken von Krankenhauswäsche. Ich erinnere mich, daß in Ihrer Wohnung, Breslau, Georgenstraße 6, Parterre, immer ein großer Haufen weißer Wäsche lag. Später, wenn sie zu Besuch war und die Unterhaltung sie nicht so fesselte, fragte sie, Leute, habt ihr was zum Trennen?
Als die große Fluchtbewegung der Zivilisten aus der Festung Breslau begann, der Befehl kam am 20. Januar 1945, mußte auch Tante Lenchen mit ihrem Mann die Heimat für immer verlassen. Diese Flucht ließ an Dramatik nichts zu wünschen übrig. Am 21. Januar fuhren Züge vom Hauptbahnhof und Freiburger Bahnhof mit Flüchtlingen. Mir ist nicht bekannt, ob sie einen Platz bekommen hatten. Auf den Bahnhöfen hatten sich ja unbeschreibliche Szenen abgespielt. Es war bitterkalter Winter, Paul Przibille konnte nicht laufen, Tante mußte ihn im Handwagen befördern. Ob ab Breslau oder von einer Flüchtlingszug-Endstation konnte ich leider nicht ermitteln. Von ihr selbst weiß ich, daß sie von Dorf zu Dorf weiterziehen mußten. Sie durften nur immer für eine Nacht im jeweiligen Ort bleiben, der - wie alle anderen mit Flüchtlingen überfüllt war. So kamen sie bis nach Micheln im Kreis Köthen, Sachsen-Anhalt. Dort fragte der Bürgermeister meine Tante, ob sie nähen könne. Als sie bejate, sagte er sie können hierbleiben. Sie organisierte sich eine Nähmaschine und nähte für die Leute.
Später wurde sie von meiner Großmutter nach Zittau geholt, wo sie einem verwitweten Viehändler (Domschke) den Haushalt führte. Paul Przibille war da schon einige Jahre tot. Ihr neues Zuhause war schräg gegenüber dem Zittauer Original, Kohlen-Buttig, in der Rosa-Luxemburg-Straße. Am 12. September 1975 ist sie gestorben, obwohl sie immer hundert Jahre alt werden wollte.
Den Abschied von ihrem geliebten Breslau hat sie nie verwunden! Sie ist auch nie wieder dort gewesen.

Schlesien war ja vom Krieg, bis dahin, was direkte Kampfhandlungen und Bombenangriffe betraf, wenig berührt geblieben. Erst ab Januar 1945 wurde es im schlesischen Flachland so schlimm, wie im Dreißigjährigen Krieg, oder schlimmer. In unserem Eulengebirge sollte es aber dann erst im Mai 45 richtig Ernst werden.

edithwolfganghansel44In Wüstewaltersdorf bin ich erst einmal in die Schule eingetreten, 1944. Wir konnten aber die Schule nur ein paar Monate besuchen. Sie wurde dann geschlossen, da jeder freie Platz für Flüchtlinge aus dem Osten (Ostpreußen) gebraucht wurde. Von der kurzen Schulzeit ist mir noch einiges in Erinnerung geblieben: So habe ich das Lesen gelernt. Wir lernten nicht Sütterlin, sondern lateinische Buchstaben. Eine unserer Lehrerinnen hieß Frau Rother. Der Unterricht fand in der Schule in Zedlitzheide statt, aber manchmal waren wir auch in der Schule gegenüber der evangelischen Kirche.

Ich erinnere mich an das Wettrechnen, alle mußten stehen, es wurden Aufgaben gestellt. Wer die richtige Lösung rief, konnte sich setzen. Meine Cousine Helgard Leistritz (gestorben 2002) gehörte immer zu den schnellsten. Auch kamen Schüler älterer Klassen in unsere Schulstunde und holten sich Strafen ab. Sie mussten die Hände ausstrecken und bekamen mit dem Rohrstock eins oder mehrere drauf.

Wir wohnten in der Neuroder Straße 8, im "Leuchtenberger Haus", im 1. Stock, rechts. Dort sind meine Schwester und ich auch geboren. Im Erdgeschoß, links, Parterre, wohnte Familie Fellmann, Ernst Fellmann ist im Krieg geblieben. Der Sohn, Hans genannt Hansel, war unser Spielkamerad und da er drei Jahre älter, als ich war, war er auch der " Bestimmer" und stiftete uns zu Streichen an. Unten wohnten noch Bergers und Frau Reiß mit Sohn und Tochter. Oben neben uns Frau Erben und Gebauers. Wer im zweiten Stock wohnte, weiß ich nicht mehr (Bild links, Edith, Wolfgang, Hansel 1944). 

Im Jahre 2004 hatte ich Gelegenheit, das Leuchtenberger Haus noch einmal vom Keller bis zum Dachboden anzusehen, mit Ausnahme unserer Wohnung. Die jetzigen Bewohner wollten das nicht. Im Haus hatte sich wenig verändert, außer dem Verschleiß nach rund 60 Jahren. Der Trockenklo-Anbau für alle Bewohner bestand immer noch und wurde genutzt. Vom Dachbodenfenster hatten wir damals den Durchzug von Einheiten der Roten Armee beobachtet. Panjewagen und bewaffneten Frauen (heute würde man Soldatin sagen, damals hießen sie Flintenweiber) riefen ein allgemeines Erstaunen hervor.

Die Versorgung mit Lebensmitteln war im Krieg, verglichen mit später, gut. Es gab natürlich nur ein stark eingeschränktes Angebot. So gab es ab und zu Speiseeis (Café und Konditorei Gellrich) und, erstaunlicherweise unser Kaufmann Hilbig (heute würde man Tante-Emma-Laden dazu sagen) hatte immer getrocknete Wachholder-Beeren, die Tüte zu 10 Pfenning, vorrätig. Die kauften wir mit Vorliebe, wenn wir mal einen "Bihm" = "Böhm", wie man in Schlesien zum Groschen sagte, hatten.

Eine Erinnerung sei noch erwähnt: Wir spielten auf der Wiese an unserem Hause gern Flugplatz. So steckten wir mit kleinen Papier-Hakenkreuz-Fähnchen die Landebahn ab. Wir waren dann die Flugzeuge und landeten mit ausgestreckten Armen, Flugzeuggeräusche simulierend. Das Spiel der Kinder lehnt sich natürlich immer an die sie umgebende Wirklichkeit an.

 

Vae victis! (Wehe den Besiegten!)

Dass der Krieg vor unserer Idylle nicht Halt macht, wurde uns zunehmend klarer. Sowjetische Kriegsgefangene waren im Ort und marschierten täglich an uns vorbei. Sie waren abgezehrt und ausgehungert. Die Organisation Todt betätigte sich durch Bau von bombensicheren Stollen in die Felswände im Wüstewaltersdorfer Ortsteil Dorfbach und am Wolfsberg, in Jauernig. Neben den Kriegsgefangenen wurden auch KZ-Häftlinge aus dem Lager Groß-Rosen eingesetzt. Besonders gegen Kriegsende waren die Häftlinge und Kriegsgefangenen unsäglichen Leiden ausgesetzt. Es wurde alles immer knapper, natürlich wurde an Kriegsgefangenen und Häftlingen zuerst gespart. Die Toten wurden in Massengräbern beerdigt. Später werden polnische Historiker vermuten, dass im Eulengebirge ein neues Führerhauptquartier entstehen sollte. Das entspricht nicht meinen Vermutungen. Ich gehe von Produktionsstandorten für Rüstungsvorhaben aus.

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